Erinnerungssplitter 1

Auf Corax diskutieren medienschaffende Leute, die zu jung sind, um brauchbare Erinnerungen an die Wendezeit zu haben.

  • Erstens verweisen sie auf die Psychologie,  wie Erinnerung funktioniert; dass da irgendwann etwas subjektiv wichtiges abgespeichert wird und dann wird dieses abgespeicherte Etwas erinnert und jedes Mal wenn der Fokus der Aufmerksamkeit durch diese synaptische Struktur streift, wird sie bearbeitet/verändert.
  • Zweitens fällt ihnen die Gleichförmigkeit der medial präsentierten Erinnerung im Zusammenhang von 20 Jahren Wende/Mauerfall auf.

Nun denn, was liegt in meiner Erinnerungskiste ganz oben auf:

  • Der Westen lügt, wenn er über die DDR berichtet. Jedesmal, wenn ich Einzelheiten überprüfen kann, flunkert er. Im RIAS lief in den 70ern mal eine Reportage über meine Winterferien, so wie sie für alle Kinder in der DDR ablaufe. Da wurde behauptet, dass ich mit einem Holzgewehr durch den Wald rennen müsse und Krieg spielen. Da ich nun aber selbst in meiner Klasse eine ganz und gar apolitische Schnitzeljagd mit Würstchengrillen am Ende organisiert hatte, war ich sehr erbost über diesen Bericht. 1982 gab es einen Fernsehbericht über das marode Halle/S. Den kaputten Zustand der Altbauten dokumentierten die Journalisten durch das Filmen einer Häuserfront, die wenige Tage später gesprengt wurde, um neuen Plattenbauten ohne Hinterhof, dafür mit Zentralheizung zu weichen.
  • Deshalb weiß ich nicht was ich im Herbst/Sommer 89 von den Fernsehbildern halten soll. Die Leute, die sich da mit Sack und Pack und Kindern über irgendwelche Stacheldrahtzäune wälzen. Der Westen schwelgt in Großaufnahmen dümmlich sächselnder Prolls, der Osten mit Schnitzler und elf99 rechnen vor, dass alles halb so wild ist.
  • Meine Kernerinnerung sind zwei Ausflüge zu den Montagsdemos in Halle, zu einer Zeit als die Demos kerndeutsch immer regelmäßig Montags stattfanden. Da waren große Menschenmengen unterwegs, doch meiner Wahrnehmung nach fast nur Gaffer so wie ich, die mal mit eigenen Augen sehen wollten was das so los ist. Da werden schon DDR-Fahnen mit Loch in der Mitte geschwenkt – das ist nicht mein Ding, da will ich nicht mitgezählt werden.
  • Die „von der Basis“ verlangte Parteivollversammlung im Festsaal der Hochschule. Alte Genossen mit Antifaschismusbackground sprechen und andere. Ein hilfloses „Es muss doch was passieren liegt in der Luft.“ Lächerliches Ergebnis der Versammlung – eine untertänige Bitte an das Zentralkomitee, doch bitte mal einen Sonderparteitag zu machen.
  • Und überhaupt im Herbst wird unser Sohn geboren und im Frühjahr muss die Doktorarbeit fertigwerden. Beides ist eigentlich wichtiger.

Wie in alten Zeiten

Panorama wärmt lebende Leichen auf und macht eine GEZ-finanzierte Reise nach Chile zu Margot Honecker. Der Beitrag ist parteilich, giftig, voreingenommen. Genau wie ich, nur andersherum. Nichts von der Bedächtigkeit eines Günther Gaus.

Der Schluss hat es mir angetan:

Treffen mit einer alten Frau, die nicht begreifen will.
„Glauben Sie dass der Sozialismus noch einmal wiederkommt, oder ist er mit der DDR untergegangen.“
„Nee, der kommt wieder.“
„Auch in Deutschland?“
„Warum nicht in Deutschland.“
Keine Einsicht. Keine Reue. 20 Jahre nach dem Mauerfall. Margot Honecker. Die Geschichte hat sie längst Lügen gestraft. Ob sie es wissen will oder nicht.

Diese umwerfende Logik. Weil der Kapitalismus seit 20 Jahren weltweit gesiegt hat, hat die Geschichte jeden Lügen gestraft, der diesen Sieg nicht für den Endsieg hält. Genau in derselben Logik bin ich aufgewachsen. Weil das mit dem Sozialismus seit 1917 in immer mehr Gegenden klappt, ist das der Weg, den die Geschichte geht. Wer etwas anderes sagt, den hat die Geschichte längst Lügen gestraft. Und dann ist das Ding innerhalb weniger Monate wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.

Herbstliche Farbspiele

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Ach dieser Bildaufkleber, der sonst in fettem Bildzeitungsrevolutionsrot an billigen Autos klebt oder Fensterscheiben von Wohnungen, die mit Deutschlandfahnen geschmückt sind. Gestern entdeckte ich zwei Exemplare, die waren aktuellerweise zu schwarz-gelb verblichen.

Dahn dönst

Daniela Dahn, Tochter der Sibylle-Gründerin, Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs und Mitherausgeberin des freitags hat ein neues Buch geschrieben: „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“ In einer Ankündigung der Friedrich-Ebert-Stiftung heißt es:

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer steht für die ostdeutsche Publizistin Daniela Dahn fest: Der Westen ist der Verlierer der Einheit. Die meisten im Osten hingegen haben gewonnen: Rechtsstaat und Reisefreiheit, höhere Renten und besseres Wohnen, modernste Infrastruktur, Konsumvielfalt und eine sich erholende Umwelt. Doch auch ihnen vergeht allmählich der Spaß. Denn der Westen von heute hat mit dem Land der Verheißungen, von dem sie einst träumten, nicht mehr viel gemein. Was bleibt vom Kapitalismus, so wie die Westdeutschen ihn einst kannten und die Ostdeutschen sich ihn erhofften? Daniela Dahn geht dieser Frage mit gewohnt präziser Recherche, spitzer Zunge und brillianter Sprache anhand vieler Beispiele aus dem Alltagsleben nach.

Na ja eben so die Leute, die sich wundern, dass es dem Kapitalismus an Demokratie und Freiheit mangelt.

Überholen ohne einzuholen

mz-web meldet:

Die Renditen der ostdeutschen Industrie sind seit fünf Jahren höher als in Westdeutschland. In den Unternehmen in den neuen Ländern betrug die Gewinnspanne im Jahr 2007 – aktuellere Daten liegen nicht vor – im Durchschnitt 5,1 Prozent. In Westdeutschland lag sie bei 3,7 Prozent. Dies ergab eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), das regelmäßig die Kostenstrukturen in west- und ostdeutschen Unternehmen auswertet.
Vor allem durch hohe Investitionen nach der Wende arbeiten ostdeutsche Betriebe vielfach effizienter als ihre Konkurrenten in den alten Ländern.
Begünstigt wird die positive Entwicklung laut IWH-Forscher Hans-Ulrich Brautzsch durch die niedrigeren Arbeitskosten. Die Personalkosten je Beschäftigten betrugen nur 62,6 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes.

Asoziale Menschenfresser

Im Spiegel 5/2009 gibt es so einen Beitrag über Anwendung von Leichenteilen in der Medizin, so gemahlenes Herz gegen Schwindel und frisches Geköpftenblut gegen Epilepsie. Am Ende des Artikels heißt es:

War das alles Kannibalismus? Sugg zweifelt nicht daran. Wie den Kannibalen der Neuen Welt sei es den Europäern im Kern um den „quasi magischen Verzehr von Vitalkraft“ gegangen. Die Anthropologin Conklin hält die hiesige Form des Kannibalismus sogar für besonders bemerkenswert. Außerhalb Europas habe „die Person, die aß, zu der Person, die gegessen wurde“, fast immer eine Beziehung gehabt. Europas Kannibalismus dagegen sei „ausgesprochen asozial“ gewesen: „Was zählte, war ausschließlich Qualität; menschliche Körperteile waren Handelsware, gekauft und verkauft, um Profit zu machen.“

Wieder so ein Hinweis darauf, warum sich der Kapitalismus gerade in Europa entwickelte. Die „zivilisatorische“ Leistung Lohnarbeit und Kapital zu erfinden und auch massiv einzusetzen, bedurfte eben ziemlich aberwitziger Abstraktionen.