Verstehe ich Herrn Schmidt?

Helmut Schmidt im Gespräch mit dem ZEITmagazin:

Nationalismus oder Militarismus gibt es doch in der Bundesrepublik gar nicht mehr!
Schmidt: So etwas ist zurzeit nicht vorhanden. Im Gegenteil. Die Deutschen werden gleichwohl darüber nachdenken müssen, dass die Bundeswehr laut Grundgesetz nur die Aufgabe hat, Deutschland gegen einen Angriff zu verteidigen. Gemeint war damals die Sowjetunion, von der heute keine Angriffsgefahr mehr droht. Wozu brauchen wir also heute eine große Armee? Wozu eine Luftwaffe und eine Marine? Eine Diskussion dieser Fragen ist notwendig. Sie wird vermutlich ausgelöst werden durch Meinungsverschiedenheiten über die Beteiligung deutscher Soldaten an sogenannten humanitären Interventionen. Es ist nach dem Grundgesetz nicht die Aufgabe der Bundeswehr, am Hindukusch oder gegen Iran Krieg zu fuhren.

Halten Sie die Forderung, Deutschland solle eine größere Rolle in der Weltpolitik spielen, für unsinnig?
Schmidt: Ich halte sie für unzweckmäßig.

Beim ersten Lesen war ich überrascht/erfreut über die einigermaßen vernünftigen Ansichten, bis auf die Leugnung von Nationalismus und Militarismus im heutigen Deutschland. Die übliche Weisheit von Politikern i.R.

Beim zweiten Lesen war ich etwas verwirrt über Parallelen zur Argumentation der Rechten. Und je länger ich über die „Unzweckmäßigkeit“ einer größeren Rolle in der Weltpolitik nachdenke, desto mehr komme ich ins Zweifeln.

Heilige Familie

In der Zeit gibt es das Wort der Woche:

„Die Absicht ist die Frau vom Aus-Versehen.“ – Ein Mädchen, vielleicht 4 Jahre alt.

Das ist aber auch eine heteronormativ – monogamistische Welt. Bei Hase und Igel lebt der Igel so wie es sich der Pabst wünscht. Und wenn es in den Märchen doch mal patchwork-familiet, dann geht es immer schief mit den Stiefeltern. Selbst für Außerirdische ist die heterosexuelle Zweierkiste das Nonplusultra. Kein Wunder das im Weltbild einer Vierjährigen selbst abstrakte Begriffe einen auf Familie machen.

Heilige Arbeit

Zweimal in Galaxo, den Kindernachrichten der Mitteldeutschen Zeitung, drüber gestolpert:

  • Über die Unruhen in Kirgisistan: „Viele Menschen dort sind sehr unzufrieden. Sie haben keine Arbeit und sind arm.“
  • Laura Höse, 10 Jahre: „Was würdest du als Chef von Deutschland anders machen? Ich würde dafür sorgen, dass alle Menschen auf der Welt Arbeit bekommen.“

Jahnishausen 2

Das ist ja eine Freude, dass da noch jemand zweifelt. So Kommunen sind mein gelobtes Land. Und wenn ich besonders selbstmitleidig bin, beweine ich immer, dass ich es (noch?) nicht geschafft habe mich auf so einer Insel niederzulassen. Wehmütig verfolge ich dann von fern, was in Niederkaufungen oder Waltershausen los ist, gucke was sich bei kommuja tut.
Ich habe in Jahnishausen ein Wochenende zur gewaltfreien Kommunikation mitgemacht. Die dortige „Lebenstraumgemeinschaft“ war nicht der Veranstalter, wir haben nur die Räume genutzt/gemietet. Trotzdem habe ich natürlich alle Sinne offen gehalten. Mein negatives Urteil stützt sich auf folgende Beobachtungen:

  • Gemeinschaftswaschmaschinen, auf denen lag eine Liste, wo eingetragen wurde, wer wie oft gewaschen hatte, dann wurde per Waschgang bezahlt.
  • Eine Sauna, die musste per Nutzung bezahlt werden.
  • Ein Riesenfuhrpark an Autos für reichlich dreißig Bewohner.
  • Am Eingang dieses Schild, das den Eingang wegen Privateigentum liemitierte.
  • Dieses Standardverbotsschild.
  • Was an Zeitungen und Flyern so rumlag: Die TAZ als linkeste Zeitung und Flyer vom ZEGG, Buddhismus, Yoga, Atemtechniken.
  • Ein Bewohner und Teilnehmer am Seminar schilderte zwei aktuelle Konflikte:
    • Erst seit kurzem gibt es in Jahnishausen Kinder, aber es gibt auf dem Gelände von den Bewohnern eingerichtete „Heilige Orte“.
    • Leute, die arbeiten gehen möchten für ihre Gemeinschaftsarbeit Geld, während die Rentner ihre Gemeinschaftsarbeit unentgeldlich leisten.

So jetzt habe ich mal nach allen Regeln der Kunst versucht, Bewertung und Beobachtung auseinaderzuhalten. Jetzt aber. Die Lebenstraumgemeinschaft ist einfach keine politische Gemeinschaft. Da wohnen Sitzkissenpotatoes, die wahrscheinlich kaum Kritik an den politischen Verhältnissen üben. Das kommt ja auch im „über uns“ zum Ausdruck: 1. Gemeinschaft – 2. Ökologie – 3. Ökonomie. (und wer ökonomisch schwach ist, darf gar nicht erst mitspielen.)

Tocotronic

Aus einer Rezension von Alexander Kasbohm zu „Schall und Wahn“:

„Im Zweifel für den Zweifel“: in Zeiten zur Schau gestellter Sicherheit ohne einen Anflug von Ahnung genau das richtige Statement. Für Unsicherheit wird in der Gesellschaft immer weniger Raum gelassen; Zweifel ist Schwäche und stört die Produktivität. Also gilt für Studenten wie Arbeitnehmer, Für „Entscheider“ wie „Ausführende“: jeden Zweifel ignorieren und weitermarschieren, ohne Rücksicht auf Verluste. Doch nur aus dem Zweifel entspringen neue Gedanken, nur wo Vorstellung und Welt nicht in eins fallen, entstehen Kreativität und Fragen nach Alternativen. Das gilt für diese Platte wie für den Rest subversiven Lebens. Sicherheit tötet. Zweifel macht stark.